Leerstand, Grundsteuer und Konsumverhalten
Warum die Rechnung für unsere Innenstädte nicht mehr aufgeht
Wir sind auf ein Angebot des Allee-Centers in Altenessen aufmerksam gemacht worden:
Leerstehende Flächen werden an Vereine und Institutionen vergeben, die sich bewerben und die Räume kostenfrei nutzen können.
Ja, das hat ein „Geschmäckle“, vor allem, wenn man weiß, dass Leerstand immer auch ein finanzielles Problem ist. Aber es ist gleichzeitig ein realistischer Schritt:
Wo Leben ist, kommen Menschen, wo Menschen sind, steigen Umsatzchancen und damit gewinnt am Ende auch der Standort.
Gleichzeitig stehen wir in Essen vor einer deutlich größeren Frage:
Wie gehen wir als Stadt und als Bürger mit der Finanzlage und den Folgen der Grundsteuer-Reform um?
Was die Grundsteuer mit der Innenstadt zu tun hat
Die Grundsteuer ist eine kommunale Steuer auf Grundstücke und Gebäude. Sie wird formal von Eigentümerinnen und Eigentümern gezahlt, kann aber als Betriebskosten auf Mieter und Gewerbetreibende umgelegt werden, also auch auf kleine Läden, Gastronomie und soziale Träger.
Mit der Grundsteuerreform, die ab 1. Januar 2025 greift, wurden bundesweit alle Grundstücke neu bewertet. Die Kommunen legen über ihren Hebesatz fest, wie hoch die tatsächliche Belastung ausfällt.
In Essen sieht das ab 2025 so aus:
Grundsteuer A (Land- und Forstwirtschaft): Hebesatz 390 % (alt: 255 %)
Grundsteuer B – Wohngrundstücke: Hebesatz 655 % (alt: 670 %) → leichte Entlastung
Grundsteuer B – Nichtwohngrundstücke (also viele Gewerbeflächen): Hebesatz 1.290 % (alt: 670 %) → massive Erhöhung
Damit werden Wohnen und Nichtwohnen steuerlich getrennt behandelt. Das Ziel der Stadt ist u. a., Wohnraum nicht zusätzlich zu verteuern und gleichzeitig die Einnahmen zu sichern. In der Realität bedeutet das aber:
Viele Geschäftsflächen, Ladenlokale und auch Center-Immobilien werden steuerlich deutlich stärker belastet.
Essens Haushalt: Defizit, Reform und Druck
Die finanzielle Lage der Stadt ist angespannt.
Mit Stand 2025 liegt das Defizit im laufenden Haushalt bei über 120 Millionen Euro.
Ein Teil des Problems:
Durch die Umstellung der Grundsteuer nimmt die Stadt Essen rund 8 Millionen Euro weniger ein als ursprünglich geplant.
Gleichzeitig steigen die Ausgaben, vor allem in Bereichen wie Jugend, Bildung, Soziales und Personal.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Kommunen überhaupt an Stellschrauben wie der Grundsteuer drehen. Sie ist eine verlässliche Einnahmequelle, weil sie nicht von Gewinnen abhängt, anders als die Gewerbesteuer.
Aber: Die Frage ist nicht nur, ob man es rechtlich kann, sondern ob es wirtschaftlich und stadtentwicklungspolitisch sinnvoll ist, Gewerbeflächen in dieser Lage stärker zu belasten.
Was passiert, wenn die Grundsteuer für Nichtwohnen steigt?
Wenn der Hebesatz für Nichtwohngrundstücke von 670 % auf 1.290 % steigt, ist das fast eine Verdopplung der Steuerlast auf diesen Flächen.
Die Auswirkungen sind konkret:
Vermieter von Geschäftsflächen zahlen mehr Grundsteuer.
In vielen Gewerbemietverträgen wird diese Steuer über die Nebenkosten an die Mieter weitergegeben.Für kleine Läden und Gastronomie steigen die Fixkosten.
Das kommt zusätzlich zu höheren Energiepreisen, steigenden Personalkosten und einem insgesamt schwierigeren Umfeld.Leerstand kann sich verstärken.
Wer ohnehin mit geringen Margen arbeitet, wird sich genau überlegen, ob er eine Ladenfläche anmietet und ob sich ein Standort mit hohen Nebenkosten überhaupt rechnet.Die neue Grundsteuer trifft nicht „die Immobilie“, sondern indirekt Menschen vor Ort.
Beschäftigte, Inhaber kleiner Betriebe, soziale Träger, Initiativen, je nach Vertragsgestaltung.
Damit ist klar:
Die Grundsteuer ist nicht nur eine abstrakte Zahl im Haushalt, sondern ein Element, das sehr konkret darüber mitentscheidet, ob eine Straße, ein Center oder eine Innenstadt lebendig bleibt oder weiter ausdünnt.
Das Angebot des Allee-Centers: Pragmatismus statt Perfektion
Vor diesem Hintergrund wirkt das Angebot des Allee-Centers an Vereine und Institutionen wie ein Gegengewicht:
Leerstehende Fläche wird genutzt.
Vereine bekommen Räume, die sie sich regulär oft nicht leisten könnten.
Das Center wird belebt, Menschen kommen wieder öfter hin.
Das kann man kritisieren und als Imagepflege abtun. Man kann aber auch anerkennen, dass Leerstand niemandem hilft und dass Zwischennutzungen durch Zivilgesellschaft eine realistische, sofort wirksame Maßnahme sind, um einen Standort vor dem kompletten Abrutschen zu bewahren.
Fakt ist: Wenn Fläche dauerhaft leer bleibt, zahlen am Ende alle drauf, die Stadt, die Eigentümer, die Gewerbetreibenden und die Bürger.
Und wir Bürger? Bequemlichkeit vs. Anspruch
Neben allen steuerlichen und haushaltspolitischen Fragen bleibt ein Punkt, den wir ungern ansprechen:
Wir wünschen uns vielfältige Innenstädte mit individuellen Läden, Cafés, Buchhandlungen und Fachgeschäften.
Gleichzeitig bestellen wir bequem online, weil es schneller geht, oft billiger ist und bis an die Haustür geliefert wird.
Die Folge:
Ketten und Billiganbieter können über Masse und niedrige Einkaufspreise arbeiten.
Kleine Einzelhändler tragen höhere Kosten pro Produkt und haben weniger Spielraum.
Wenn dann noch Nebenkosten inklusive Grundsteuer steigen, kippt das Modell sehr schnell.
Und trotzdem wird öffentlich immer wieder geklagt:
„Die Innenstädte veröden, es gibt nur noch Ein-Euro-Shops und Billigketten.“
Die unbequeme Wahrheit: Ein Teil dieser Entwicklung ist direkte Folge unseres eigenen Konsumverhaltens.
Was wäre, wenn wir uns Vielfalt wirklich „leisten“ wollen?
Stellen wir uns vor, Essen würde gezielt Rahmenbedingungen schaffen, damit wieder mehr unabhängige Händler, Manufakturen und kleine Gastronomien in die Einkaufsstraßen kommen.
Dafür bräuchte es:
Mietpreise und Nebenkosten, die für kleine Betriebe tragbar sind,
weniger steuerliche Zusatzbelastung für Nichtwohnen,
und Kundschaft, die bereit ist, vor Ort zu kaufen, nicht nur „symbolisch“, sondern regelmäßig.
Die zentrale Frage ist dann nicht nur:
Was soll die Stadt tun?
Sondern auch:
Was sind wir als Bürger bereit, dafür zu tun?
Lösungsansätze, nicht perfekt, aber realistisch
Niemand wird mit einem einzelnen Instrument die Probleme der Innenstädte lösen. Aber einige Ansätze lassen sich klar benennen:
1. Kommunale Entscheidungen differenziert treffen
Grundsteuer-Hebesätze so gestalten, dass kleine und mittlere Gewerbe nicht strukturell überfordert werden.
Transparente Kommunikation, wofür die Einnahmen genutzt werden, z. B. für genau die Infrastruktur, von der Innenstädte profitieren.
2. Leerstand aktiv steuern
Zwischennutzungen wie im Allee-Center nicht als „Notlösung“, sondern als strategisches Instrument begreifen.
Kooperation mit Vereinen, Bildungsträgern, sozialen Initiativen und Kultur, überall dort, wo Belebung stattfindet.
3. Konsumverhalten ehrlich reflektieren
Sich bewusst entscheiden: Wo kaufe ich ein?
Nicht jede Bestellung online aus Bequemlichkeit, sondern gezielt lokale Anbieter einbeziehen.
4. Stadtentwicklung mit Bürgern denken, nicht gegen sie
Bürgerbeteiligung nicht nur als Feigenblatt, sondern als echte Ideenschmiede nutzen.
Formate, in denen Eigentümer, Stadt, Initiativen und Bürger gemeinsam überlegen, wie konkrete Straßen wieder attraktiv werden können.
Schlussgedanke
Die Grundsteuer ist kein abstrakter Verwaltungsposten. Sie beeinflusst ganz konkret, wie teuer es ist, in einer Stadt Fläche vorzuhalten, für Wohnen, Gewerbe, Kultur oder Bildung.
In Essen sehen wir:
Die Haushaltslage ist ernst.
Durch die Reform nimmt die Stadt weniger Grundsteuer ein als erwartet.
Gleichzeitig werden Nichtwohngrundstücke deutlich stärker belastet.
Das ist ein Spannungsfeld, das man nicht wegdiskutieren kann.
Das Angebot des Allee-Centers an Vereine ist ein Baustein, um Leerstand zu begegnen. Es löst nicht das Grundproblem, aber es setzt ein wichtiges Signal: Flächen, die genutzt werden, sind immer besser als Flächen, die verfallen.
Die eigentliche Frage bleibt jedoch:
Sind wir als Stadtgesellschaft bereit, unser eigenes Verhalten, steuerlich, politisch und beim Konsum, so zu verändern, dass Innenstädte wieder eine echte Zukunft haben?